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der name gottes geschrieben

der name gottes geschrieben...
(fotos dezember 2007/januar 2008, são paulo und rio de janeiro, brasilien)


avenida corifeu und umgebeung, butantã, zona oeste, são paulo, 2007 (417 fotos)avenida vital brasil und umgebeung, butantã, zona oeste, são paulo, 2007 (181 fotos)rua da consolaçao, zentrum, são paulo, 2007 (307 fotos)santo andre, abc, são paulo (49 fotos)raposo tavares und umgebeung, butantã, zona oeste, são paulo (232 fotos)zentrum (estação da luz - praça da badeira), são paulo (243 fotos)rua augusta + avenida rebouças, zentrum são paulo (253 fotos)zentrum são paulo + tiete (423 fotos)zentrum são paulo, avenida brigadeiro, avenida paulista (354 fotos)zentrum são paulo, rua da consolaçao (224 fotos)

 


eine detailierte darstellung einzelner buchstaben oder buchstabengruppen ausgewählter fotos dieser dokumentation
(in arbeit)

 



itaquatiara, niteroi, rio de janeiro (208 fotos)
tijuca, rio de janeironiteroi, largo da batalha, rio de janeironiteroi zentrum, rio de janeiro (421 fotos)cilelândia, sambódromo, tijuca (511 fotos)rio de jameiro, tijuca, presidente vargas (422 fotos)niteroi, rio de janeiro, garganta, santa rosa (260 fotos)080113 rio porto (589)080113 rio urca, pixo no rio (420)

youtube links zu filmen über pixycao

Der Name Gottes… geschrieben
Für eine negative Theologie des tags

Kunst als Mitteilungsprozess

An Gott glauben bedeutet hier an die Existenz der Welt glauben, daran, dass alles existiert. Die Existenz ist die Wirklichkeit, das, was wirklich ist. Wenn wir davon ausgehen, dass wir eine persönliche Version der Wirklichkeit dadurch entwickeln, dass wir sie durch unsere Sinne wahrnehmen, dann trennt dieses nur mittelbare Erkennen dessen, was ist, diese Wahrheit, den Menschen von der Wirklichkeit, die ihn umgibt und von der er Teil ist. Im Laufe seiner gesellschaftlichen Entwicklung und Zivilisation wird sich der Mensch dieser Trennung bewusst und beginnt seine Umwelt technisch zu gestallten. Wir passen die Wirklichkeit, die uns umgibt, unseren Bedürfnissen an, je mehr wir jedoch auf sie einwirken, desto weiter entfernen wir uns von ihr.
Das 'Getrenntsein von der Wirklichkeit' zu überwinden, wird nun ein wichtiger Antrieb für unser Verhalten, wir sind auf der Suche, wir versuchen, die Verbindung, die Übereinstimmung mit der Wirklichkeit wieder herzustellen. Wichtig dafür ist es, uns bzw. unsere Version der Wirklichkeit mitzuteilen. Im besten Fall formulieren wir eine Essenz unserer Wahrnehmung und nehmen selbst die Botschaften der anderen wahr. Diese besondere Form des Sich-Mitteilens findet ihren allgemeinsten und zugleich spezifischsten Ausdruck in der Kunst, und zwar gerade in der modernen. Eine ähnlich zentrale Rolle spielt die Kommunikation über Wahrnehmung in der Liebe (Intimität) und im Glauben (religiöse Transzendenz). Der oder die Künstler/in drückt das, was er/sie mitzuteilen hat auf möglichst spezifische Weise aus. Ein Dichter zum Beispiel wird eine Formulierung so lange verändern, bis er für das, worum es geht, die besten Worte findet, die er gleichzeitig ihrer alltäglichen Funktionalität und Bedeutung entwendet.
Ein 'tag' (aus dem Englischen: Abzeichen, mit einem Etikett versehen etc.) im Graffiti ist der Schriftzug des Namens. Der tag ist die Grundform von Graffiti. Er setzt sich aus Buchstaben zusammen, die in eine persönliche Form gebracht werden. Durch die Form und das Verhältnis ihrer Gestaltungselemente vermitteln Buchstaben eine grafische Aussage, deren Erfassen schon bei Auswahl der Buchstaben eine Rolle spielt. Ein tag wird Ausdruck der Persönlichkeit des writers dadurch, dass er über lange Zeit immer wieder geschrieben und durch dieses wiederholende Schreiben gestaltet wird, ähnlich einer (zunächst mehr, später weniger) bewusst gestalteten Handschrift oder Unterschrift. Die erzielte Gesamtform und auch die Formen der einzelnen Buchstaben formulieren die Essenz einer eigenen Version der Wirklichkeit.
Mit einem im Schriftzug erkennbaren Wort wird unmittelbar eine Bedeutung verknüpft. Dieses vermeintliche Erkennen der Bedeutung des Wortes behindert die Wahrnehmung des Verhältnisses der grafischen Bestandteile. Dieses Verhältnis ist der eigentliche Übermittler der künstlerischen Aussage der individuell gestalteten Buchstaben. Während die gestalteten Zeichen immer wiedererkennbar bleiben und sich auf einen Buchstaben zurückführen lassen, verändert und formt der writer die Zeichen so weit, bis sie eine eigene, unverwechselbare Aussage formulieren. Dieser Prozess kann unbewusst vonstatten gehen. Letztendlich ist er der Grund für die Entwicklung eines eigenen tags.

Minimalismus und der São Paulo-Stil der pixação

'Pixação' (sprich: pischa-ßaung – von 'piche', portugiesisch für Teer, Pech) ist der in Brasilien gewöhnlich eher negativ belegte und im Gegensatz zu 'grafite' kaum in Verbindung mit Kunst verwendete Ausdruck für writing. Außer in São Paulo und Rio de Janeiro gibt es wahrscheinlich weltweit keinen weiteren regionalen Graffitistil. In der Regel entwickelt jeder writer selbst einen eigenen Stil. Sowohl in São Paulo als auch in Rio de Janeiro ist aber deutlich ein jeweils der Stadt eigener Stil erkennbar. Das Besondere am São Paulo-Stil von pixação sind die ursprünglich verwendeten Gestaltungsmittel Farbrolle und Wandfarbe und die Trennung der einzeln stehenden Buchstaben. Hier wird außerdem vornehmlich der Gruppenname und nicht das persönliche Pseudonym gestaltet.
Der São Paulo-Stil ist wie die Stadt geprägt von langen Geraden und engen Kurven. Den einzelnen Buchstaben wird große Bedeutung beigemessen, jeder steht für sich. Durch den weiträumigen Abstand der Buchstaben zueinander wird auch ihre grafische Aussage stärker betont. Diese Anordnung entsteht durch die baulichen Elemente auf der Oberfläche der Gebäude (Fenster, Mauervorsprünge), die Zwischenräume erzeugen. Daher sind die Buchstaben in der Regel in der Waagerechten angeordnet und gut lesbar. Als Abweichung davon stehen die senkrechten Linien der Buchstaben manchmal auch dicht aneinander gedrängt. Ebenso kommt es vor, dass eine große durchgehende, also viel Gestaltungsfreiheit bietende Fläche mit weit ausgreifenden aber sehr dünnen (aufgesprühten) Linien beschrieben wird. Der Stil in Rio de Janeiro wiederum ist von äußerster Abstraktion geprägt und erst später entstanden. Es heißt, dass sich in ihm ebenfalls das spezifische Erscheinungsbild der Stadt, die immer noch sehr organische Stadtlandschaft Rio de Janeiros spiegelt (urbane Struktur durchsetzt von den bewachsenen Hügeln der Küstenlandschaft). Hier wird aus stark verfremdeten oder reduzierten, ineinander verwobenen Buchstaben ein sehr kompakter Schriftzug entwickelt und mit Sprühdosen aufgebracht. Beide Stile haben sich unabhängig voneinander und unabhängig von anderen Graffitibewegungen entwickelt. Überall sonst kommt dazu je nach Darstellungsweise (throw-up, piece) ein Bild, der 'character'. Pixação aber ist immer nur tag.
Die Verwendung reduzierter Gestaltungsmittel im São Paulo-Stil sowie die geringen Bewegungsmöglichkeiten beim Schreiben erfordern eine intensivere Auseinandersetzung mit der Form der Buchstaben, um einen eigenen Stil zu entwickeln. Die Unterschiede sind subtiler. Die künstlerische Botschaft, die persönliche Version der Wirklichkeit, wird auf diese Weise genauer beschrieben. Das gilt für die Entwicklung jedes tags. Der beschriebene auf einem existenziellen Bedürfnis beruhende Mitteilungsprozess erscheint unter dem hohen Stress durch die Bedingungen auf der Straße eher als einer gegen die Wirklichkeit denn als Suche danach. Das ist aber nicht notwendig ein Widerspruch: künstlerische Arbeit, Selbstbehauptung und -verwirklichung finden auf verschiedenen, einander durchdringenden Ebenen statt.
Ein São Paulo tag kann aus 3 Teilen bestehen. Im Vordergrund steht der Name der Gruppe des writers. Oft erscheint noch das Emblem einer übergeordneten Gruppierung, der die Gruppe des writers angehört. Die Namen werden auch als Abkürzungen oder Symbole geschrieben. Lediglich klein zwischen den großen Buchstaben taucht manchmal der Name des writers oder eine persönliche Botschaft auf. Die Gestaltung der persönlichen tags ist oft weniger ausgefeilt als die der Gruppennamen. Das persönliche Pseudonym tritt in den Hintergrund (umso mehr gilt das oben Gesagte entsprechend für den Gruppentag). Die Namen der Gruppen sind in der Regel Wörter der brasilianischen Umgangssprache. Als Beispiele seien hier einige Namen angeführt: Vício, Escadão, RGS os Registrados, Lixomania!, Os Índios, Os Mamut's, Os Doidos, Os Bravos, Yugo's YGS, TMRS, Suspeitos, Vagais, Os 13, Sujões, Malditos, Malucos, Psicopatas, Alucinados, Fugas, Tropa Suicida, Via Mort, Guerra.1

Signatur, Medium und Form

Die Sprache des writing als Kunst- bzw. Mitteilungsform und des tags als besondere, künstlerische Signatur benutzt auf ihre eigene Art Schrift (hier die des lateinischen Alphabets), um sie ihrem konventionellen Zweck zu entfremden. Schrift, oder genauer: ihre bildlich-graphische Erscheinung, wird selbst zur Oberfläche, die durch Konventionen vorgeformt ist. Mit diesen Vorgaben oder Beschränkungen muss die graphische Kreativität arbeiten. Hinzu kommen andere Oberflächen- und technische Bedingungen (soziale Verhältnisse/ Architektur/ Schreibwerkzeuge). Abstrakter gesprochen: Der Formungsprozess schreibt sich in das Medium oder Material ein, das selbst aus schon gegebenen (konventionellen) Formen besteht. In geringerem Maße trifft das hier auch für sprachliche Sinngehalte zu, doch lassen sich zwar meist Namen oder Worte mit allgemeiner Bedeutung identifizieren, aber das Kriterium für Stil und Wiedererkennbarkeit sind der Schriftzug und seine Zeichen.
Die Vielfalt der Bedingungen für die Einschreibung in und die Auseinandersetzung mit (gegen/auf) den 'Oberflächen der Gesellschaft' macht der São Paulo-Stil der pixação besonders deutlich. Die durch die äußeren politisch-sozialen Umstände bedingten strengen Regeln machen seinen Minimalismus aus. Es geht bei jenem Prozess der Entwicklung einer Signatur, der mehr oder weniger intensiv von der Lebensrealität des writers bestimmt wird (etwa von Exklusion und Polizeigewalt, subkulturellen Abgrenzungen), also eigentlich nicht darum, schließlich zu einem Namen zu gelangen; es geht nicht darum – wie man vielleicht denken könnte, schließlich das perfekte eigene Pseudonym zu finden (im Bezug auf den einzelnen writer tritt dieses im São Paulo-Stil ja ganz in den Hintergrund).
In einigen Religionen ist die Nennung des 'Namen Gottes' (des Göttlichen) unmöglich, geheim oder verboten; in anderen verhindert die Ambivalenz der göttlichen Wesenheiten oder Prinzipien eine definitive Benennung. Was den oben erwähnten Prozess also bestimmt und antreibt ist letztlich nicht Identität, sondern ein wiederholtes und eigenartiges In-Form-Bringen eines Verhältnisses von Differenzen. So kann er auch nicht zu einem Abschluss kommen. Wie Stil und Individualität verändert er sich, stagniert oder findet anderen Formen, Medien, Oberflächen.

 

1Mit dem Thema der Gruppen und Gruppennamen beschäftigen sich ausgiebig die Fotobücher:
'Tssss... A grande arte da pixação em São Paulo' von Daniel Medeiros, Editora do Bispo. (ISBN 8599307088) und 'pixação: São Paulo Signature' von François Chastanet aus dem XGpress Verlag (ISBN 978-2-95628097).

 

Daniel Von und z.one (August 2008)

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alle rechte bei den urhebern