ERLÄUTERUNG ZU MEINER ARBEIT

Um Utopien zu bauen, müssen wir wissen, wo wir herkommen. Was wissen wir von den Werten unserer Großeneltern? Was wissen wir von den Werten unserer Enkel, unserer Nachbarn, unserer Arbeitskollegen? Wie schaffen wir es, in einer pluralen Gesellschaft zu leben, und dennoch einander zu verstehen?
Ich erfand den Rahmen einer Erzählung und lud die zukünftigen ProtagonistInnen, Menschen ab 55, zu Workshops ein, um gemeinsam herauszufinden, was Graffiti und die "SeniorInnen" unserer Gesellschaft einander zu sagen haben.
Kunst, Sozialarbeit und Kunst im öffentlichen Interesse: wo bewege ich mich? Und welche der vielen Interessen auf dieser Welt sind denn wirklich im Sinne der, einer oder welcher Öffentlichkeit? Dazu nähere ich mich dem Begriff der Öffentlichkeit mit dem Politikwissenschaftler Oliver Marchart. Er befindet mit Hannah Arendt, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, dass Öffentlichkeit nur durch einen fundamentalen Konflikt, durch einen (Ant-) Agonismus entstehen kann.
"Erst in dem Moment, in dem ein Konflikt ausgetragen wird, entsteht über dessen Austragung eine Öffentlichkeit, in der verschiedene Positionen aufeinanderprallen und gerade so in Kontakt treten. Öffentlichkeit ist dabei, wenn wir genau hinsehen, nicht etwa das "Produkt" dieses Aufeinanderprallens, sondern Öffentlichkeit ist der Aufprall selbst."
Öffentlichkeit ist also etwas, das sich herstellt. Mit dem senior street art Projekt lassen zwei gegensätzliche, also antagonistische, Gruppen Menschen und Handlungen miteinander in Beziehung treten und stellen so eine Öffentlichkeit her. Aus den angeleiteten Zusammentreffen bekam ich interessante Erkenntnisse über eine ältere Generation und über Graffiti.
An den bisherigen senior street art Angeboten, einem zweimonatigen Workshop im Rahmen einer Ausstellung zu Graffiti und street art und einer Aktionswoche im Mai 2006 in einer Seniorentageseinrichtung in Berlin, Kreuzberg, nahmen Menschen zwischen 58 und 82 Jahren teil. 14 KünstlerInnen zwischen 20 und 34 Jahren arbeiteten mit ihnen in Workshops, einer Pseudonymberatung, Führungen, einer gemeinsamen Werkstatt und weiteren Partizipationsangeboten im öffentlichen Raum.
Ich gebe mit diesem Workshopangebot Menschen den Raum, sich temporär bis permanent in die Stadt einzuschreiben, weil ich finde, dass ihre Meinungen und Ansichten von allgemeinem Interesse sind und sie sich aber selber nicht diesen Raum nehmen würden.
Gute zwei Monate nach der letzten Aktionswoche interviewte ich einige Teilnehmerinnen zu ihren gesammelten Erfahrungen mit senior street art, um die aus der Praxis geschöpften Erkenntnisse aufzuzeichnen.

Wenn ich irgendetwas an die Wand brächte, was mir am Herzen liegt, wie erfahre ich überhaupt eine Reaktion darauf? Dieses Anonyme ist nicht mein Ding, muss ich ganz ehrlich zugeben. (Eva, 61 Jahre)

Ich habe hier im Park Borkenstücke gesammelt, da war Farbe dran. Bei Ausgrabungen in hundert Jahren würde man sich freuen, zu entdecken was heute geschrieben wird, und wie. (Toni, 63 Jahre)

Das ist ja wie bei Musik. Ich hab mir jede Musik, die ich geschenkt bekam, mindestens dreimal angehört. Da war manchmal auch was ganz Neues dabei, und im ersten Eindruck ist das ja doch oft anstrengend. Und das war es zuerst mit dem Graffiti auch, anstrengend. (Renate, 72 Jahre)

Also, ich denke, es ist legitim sich zu zeigen, und wenn das immer mehr unterdrückt wird ... (Sigrid, 60 Jahre)